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Publikationen : Leseprobe

Macht der "kleine" Unterschied einen Unterschied?

Eine Diskussion über die Geschlechterperspektive in der systemischen Familientherapie

In: Schweitzer-Rothers, Jochen et al (Hrsg): Systemische Praxis und Postmoderne. Frankfurt. Suhrkamp (1992)

Was nun die Unterschiede zwischen Dr. Imber- Black und Dr. Boscolo betrifft, läßt sich feststellen, daß sie beträchtlich waren. Aber sind diese Unterschiede eher dem Geschlecht, der Persönlichkeit oder der Nationalität der Therapeutin und des Therapeuten zuzuschreiben? Zudem sind weder Persönlichkeit noch Nationalität geschlechtsfreie Kategorien, im Gegenteil: Traditionelle Rollenverteilungen innerhalb einer Familie sind sicher im italienischen Kontext noch stärker an der Tagesordnung als im US- amerikanischen Kontext und werden auch vermutlich von Therapeutinnen oder Therapeuten als Werthaltung und als sprachliches Verhalten an die Familie weitergegeben. Eine an traditionellen Rollenmustern orientierte Therapeutin wird eher wissen, "wo es langgeht". Ein neuen Rollenvorstellungen gegenüber offener Therapeut wird eher die Vorstellungen der Familie erfragen.

Lassen wir uns auf den konkreten Vergleich des therapeutischen Verhaltens ein, so unterscheiden sich, wie könnte es auch anders sein, die Beobachtungen und Einschätzungen von Autorin und Autor dieses Beitrags erheblich.

Die Autorin (A.E.N.) schaut zunächst auf Ähnlichkeiten zwischen Therapeutin und Therapeut und bemerkt eine deutlich entlastende Wirkung der beiden familientherapeutischen Gespräche auf die Familie. Dies wird zum einen durch die verbalen Äußerungen der Familie im Nachgespräch bestätigt, zum anderen durch den nonverbalen Eindruck, der bei uns beiden ebenda entstanden ist. Die Mutter schien physisch und psychisch entlastet, der Vater physisch und psychisch gewichtiger. Diese Entlastung durch die Umverteilungen der Gewichte schreibt die Autorin Dr. Imber- Black und Dr. Boscolo gleichermaßen zu.

Welche Unterschiede im Verhalten von Therapeutin und Therapeut werden jenseits solcher Ähnlichkeiten beobachtet? Die Autorin (A.E.N.) beobachtet bei Luigi Boscolo, ähnlich wie die Familie, daß dieser eine eher hierarchische Therapeut- Klienten- Beziehung konstruiert; daß er eher traditionelle Rollenverteilungen abfragt, indem er Begriffe wie "hart/weich" und "gehorsam" selbst in das Gespräch einführt, daß er eher pathologisierend wirkt, indem er dem Vater das Gefühl vermittelt, zu weich für einen Mann zu sein, und der Mutter, zu hart für eine Frau. Er stellt das Verhalten der Eltern nicht in den Kontext ihrer eigenen Herkunftsfamilie und arbeitet dadurch auch nicht die "guten Gründe" beider Verhalten heraus: bei Herrn M. den Wunsch, es anders als der eigene Vater zu machen; bei Frau M. den Wunsch, eine andere Frauenrolle als die der Mutter zu finden.

Sie beobachtet bei Evan Imber- Black, daß diese eher eine Atmosphäre der Konversation und der Transparenz geschaffen habe, indem sie zu Beginn sich selbst ausführlich vorstellte anhand ihrer Arbeitsschwerpunkte und ihrer Interessen an diesem Gespräch. Sie habe die Familie eher zu Neugier bezüglich des Sinnes ihres Rollenverhaltens angeregt, indem sie dieses in den Kontext der jeweiligen Herkunftsfamilien stellte. Durch ihr Interesse für das Aushandeln von Entscheidungen innerhalb der Familie vermittelte sie eine mehr partnerschaftliche Perspektive, ebenso wie durch das zeitlich gleich verteilte Ansprechen der einzelnen Familienmitglieder.

Der Autor (J.S.) hält diese Schilderung für Schwarz- Weiß- Malerei. Er sieht bei Evan Imber- Black ebenfalls ein persönlicheres und direkteres Herangehen an die Familie, bei Luigi Boscolo ein professionell- distanzierteres. Aber er sieht keine unterschiedlichen Hierarchie- Konstruktionen durch beide: Beide dirigieren gleichermaßen das Gespräch straff durch schnell aufeinanderfolgende Fragen (bei Evan Imber- Black eher forte und staccato, bei Luigi Boscolo eher andante im Ton), ohne daß reziprokes Rückfragen von Familienmitgliedern in einem der Interviews zu beobachten wäre. Er beobachtet ferner, daß beide verschiedene Ansprechpartner "bevorzugen": Luigi Boscolo die Kinder, besonders David, Evan Imber- Black die Mutter, der Vater bleibt bei beiden peripherer. Pathologisierende Tendenzen beobachtet er bei beiden Interviews nur an je einer Stelle: als Boscolo impliziert, David könne Mutter zuliebe einen "alten Mann" spielen, und als Imber- Black am Ende der Familie die Anregung gibt, vielleicht doch noch zu einigen gemeinsamen therapeutischen Gesprächen zu gehen.

Drei Unterschiede sind für ihn allerdings nachhaltig: die stärkere Vorliebe Boscolos für die Metaphern "tough/soft" ("hart/weich") anstelle der von der Familie angebotene Metapher "cooperative/autocratic"; das genaue Interesse Imber- Blacks daran, wer im Hause welche Hausaufgaben wann erledigt, während Boscolo sich mehr für übergreifende Ideen und emotionale Muster interessiert; schließlich der eher affirmative Umgang Boscolos und der eher kritische Umgang Imber- Blacks mit traditionellen Rollenverteilungen.

Nach Meinung der Autorin (A.E.N.) passen diese konkreten Unterschiede zu den von der geschlechterorlentlerten Familientherapie als allgemein herausgestellten Unterschieden. Geschlechterorientierte Therapie drückt sich sowohl durch eine spezifische Haltung als auch durch ein bestimmtes Verhalten aus und ist charakterisiert durch die Einbeziehung größerer raum- zeitlicher Kontexte, etwa der Herkunftsfamilie, des Arbeitsplatzes, der Sozialpolitik etc. Sie betrachtet den größeren Kontext von Raum und Zeit auch in bezug auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern, etwa in der Herkunftsfamilie und in der Gesellschaft, und hat damit den Wandel, aber auch die nach wie vor vorhandenen Festschreibungen der Geschlechterrollen im Blick. Sie versucht im therapeutischen Gespräch, Macht abzubauen und Transparenz zu schaffen, auch in der Form des Dialogs zwischen Therapeutinnen und Patientinnen (Männer inklusive!). Sie legt auf die Aufwertung weiblich konnotierter Werte Wert. Sie achtet darauf, in der Sprache Begriffe und Metaphern aus klassischerweise "männlichen" und "weiblichen" Erfahrungswelten gleichermaßen zu verwenden. Und sie stellt die eigene Fähigkeit zur Neutralität in Frage.

Der Autor (J.S.) sieht lediglich in der "Aufwertung weiblich konnotierter Werte", in der Metaphernverwendung und in der Nicht- Neutralität gegenüber Frauen und Männern und gegenüber deren traditionellen Rollenverteilungen etwas speziell geschlechterorientiertes. Darüber hinaus scheint ihm vieles aus der "geschlechterorlentlerten Therapie" charakteristisch für Haltung und Praxis von Therapeutinnen, die aus kritischer Distanz zu herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen die ökonomischen, ideologischen und politischen Rahmenbedingungen von Familienleben in der Therapie sowohl detailliert zur Kenntnis nehmen als auch in diesem Bereich zu intervenieren versuchen.

Der Autor (J.S.) spekuliert, daß man die hier versuchte Diskussion in ca. fünf bis acht Jahren noch mal aufnehmen könnte, sofern bis dahin eine spezifisch weibliche Therapeutinnen- Identität soweit konturiert und anerkannt ist, daß Therapeutinnen auf "typisch männliche" Muster eher in einer neugierigen als in einer kämpferischen Haltung zugehen können, und sofern männliche Therapeuten sich den "Luxus" gönnen, mit solchen "männerspezifischen" Aspekten ihrer eigenen Identität unzufrieden zu werden, die sie in ihren Möglichkeiten einengen. Die Autorin (A.E.N.) glaubt dagegen eher nicht an Wunder, die vom Himmel fallen. Sie hält den Dialog zwischen den Geschlechtern für einen kontinuierlichen Prozeß, der nur dann zu der Gleichberechtigung beider Geschlechter führt, wenn er nicht unterbrochen wird.

 

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